Erst die Kohle dann das Vergnügen
Das Kohlezeitalter neigt sich dem Ende zu – zuletzt hat nun China angekündigt, aus der Finanzierung ausländischer Kohlekraftwerke auszusteigen. Alternativen zum schmutzigen Energieträger sind längst da. Doch was wird aus den Jobs, der Infrastruktur, den Regionen, die vom Bergbau abhängig waren? Weil in Deutschland trotz fallender Tendenz täglich weiterhin rund 25 Hektar mit Asphalt versiegelt werden, braucht es dringend Orte, an denen die Natur ihre Selbstheilungskräfte entfalten kann. Orte, wo der Mensch seine Spuren verwischt und lernt, mit ihr, statt gegen sie ein gutes Leben zu führen. Eine Berliner Familie zeigt, wie das im Kleinen gelingen kann.
Eine Reportage von Lars Nungesser
Seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde hier Braunkohle abgebaut. Ab den fünfziger Jahren ließ man den ausgedienten Tagebau renaturieren. Mehrere Bäche füllten die fünfzig Meter Tiefe Grube mit Wasser auf, Menschen pflanzten Pioniergewächse am Ufer. Bald entdeckten Libellen den neu entstandenen See auf ihren Suchflügen als Lebensraum. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand ein Biotop, das von Mensch und Tier gleichermaßen geschätzt wird und seit 1985 als Naturdenkmal geschützt ist. Heute wuchern Schilf, Teich- und Seerosen am Ufer – der natürliche Prozess der Verlandung nimmt seinen Lauf. Gesunde Ökosysteme sind niemals statisch, sondern immer in Veränderung.
Trotzdem strahlt der See eine überwältigende Ruhe aus – ein Ort zum Träumen und Altwerden. Einen Steinwurf vom See entfernt liegt das Bergseecamp, ein familienbetriebener Naturcampingplatz. Ich werde herzlich empfangen von Johanna Giesecke, die an diesem Ort vor zwei Jahren ihre Berufung gefunden hat: „Wir wollen unser Leben hier verbringen“ erzählt sie mir bei einem Colabier im Garten. Mit solcher Bestimmtheit hat mir das noch niemand aus meiner Generation über irgendeinen Ort gesagt.
Das Haupthaus wird renoviert, im Erdgeschoss soll eine Gastronomie mit regionalem Angebot entstehen. Die liebevoll mit Lehm verputzten Wände lassen schon erahnen, wie gemütlich es dort bald werden wird. So entsteht nicht nur ein Angebot wo es vorher wenig gab, es entstehen auch Jobs für die Menschen, die hier leben. Auf dem Land, am eigenen Wohnort zu arbeiten heißt weniger Pendeln, ohne die hohen Mieten im Göttinger Speckgürtel zahlen zu müssen. Der Zwang, des Berufs wegen in der Stadt zu leben entfällt – zumindest für Johanna, die in Berlin jahrelang in Kneipen und Bars gearbeitet hat. Im Oktober wird hier ein kleines, familiäres Festival stattfinden. „Es wird kalt, lasst uns schwitzen“ lautet das Motto des „Herbstivals“, dessen Programm von Heat Yoga bis zu elektronischer Musik im Kaminzimmer reicht. Beim letzten Mal gab es Sekt auf Eis im Saunawagen. Am Bergseecamp weiß man, wie man lebt.
Mit Hedonismus hat das wenig zu tun. Die Menschen hier haben genauso viel Lust auf Kulturangebote wie anderswo. „Wir machen das, was uns Spaß macht und ziehen damit Menschen an, denen genau das gefällt.“ Angebote wie dieses machen die Region attraktiver, wirken der Landflucht entgegen. Diesen Sommer hat Johanna mit ihrer Berliner Band ein Salsakonzert am Bergsee gegeben. „Das war sehr wahrscheinlich das erste Mal überhaupt, dass hier, an genau diesem Ort, soetwas stattgefunden hat.“ Für Delliehausen eine Premiere, für die Band der letzte gemeinsame Auftritt. Das Reisen zu den Proben nach Berlin wurde Johanna auf Dauer zu viel. Gut, dass das Bergseecamp einen eigenen Proberaum hat – das nächste Bandprojekt kommt sicher irgendwann.
Orte wie dieser helfen, Menschen miteinander zu verbinden, zu vernetzen und gemeinsam alternative Lebensweisen auszuprobieren. Allein ist man in Delliehausen damit nicht: Im nach ländlichen Maßstäben nicht weit entfernten Greene, versorgt seit diesem Sommer eine solidarische Landwirtschaft rund dreißig Haushalte mit regionalem Biogemüse. Zehn Kilometer weiter, in Salzderhelden, wurde gerade ein selbstverwaltetes, veganes Mitmachcafe gegründet. Das Stichwort heißt Resilienz. In Zeiten von kollabierenden Lieferketten, Flutkatastrophen und Pandemie sehnen sich viele nach starken menschlichen Netzwerken, nach regionaler Selbstversorgung und nachbarschaftlicher Hilfe. Natürlich können sich dabei nicht alle um alles kümmern. Deshalb gibt’s in Greene das frische Gemüse, in Delliehausen Sekt auf Eis.
Beim Falafelpicknick am Seeufer sprechen wir darüber, was Johanna und Sol zu diesem Ort hingezogen hat. Die beiden Schwestern sind in Berlin Mitte aufgewachsen, haben in Kreuzberg und Friedrichshain gewohnt. „Berlin ist längst vorbei“ sagt Johanna und Sol nickt. Dort sehe es jetzt in weiten Teilen aus, wie in allen Städten, die irgendwann mal cool waren. Die aktuellen Mietpreise könnten sich selbst die richtig gut laufenden Clubs und Bars langsam wirklich nicht mehr leisten, geschweige denn die meisten Menschen. Hier im Solling ist Platz, um etwas neues entstehen zu lassen. Nach dem Tod ihres Großvaters und einem ausgeschlagenen Erbe, beschloss die gesamte Familie deshalb einen Neuanfang für sich und den Campingplatz.
Die spätsommerliche Abendsonne wirft ein fast schon kitschiges Licht auf den See. Jetzt fehlen nur noch die Kanadagänse und Kommentare des britischen Tierfilmers David Attenborough. Tatsächlich landet wie bestellt ein Wasservogel und macht das Gefühl, in einer Naturdoku gelandet zu sein perfekt. Kaum vorstellbar, dass der Mensch hier bis vor rund hundert Jahren im Kohlestaub gewühlt hat. Ein Blick auf den Bergsee ist ein bisschen wie ein Blick in die Zukunft, ins post-fossile Zeitalter. Hier wird begreifbar, dass trotz des weltweiten Zerfalls der Ökosysteme, überall und immer wieder Oasen wie diese entstehen: Flecken, an denen die Natur noch – in diesem Fall wieder – in Ordnung ist.
Text und Bilder: Lars Nungesser
Illustration und Design: Julian Kolodziey